BauO § 55: Reichweite der Barrierefreiheit

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Sebastian Veelken
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BauO § 55: Reichweite der Barrierefreiheit

Beitrag von Sebastian Veelken »

Für den 24.01.2012 kündigt das OVG NRW eine Entscheidung zu § 55 BauO NRW an:
24.01.2012,10.15 Uhr
Aktenzeichen: 7 A 1977/10
B. KG ./. Stadt Köln
Die Beklagte (Stadt Köln) hat die Erteilung einer Baugenehmigung für ein Bäckereifachgeschäft mit Cafe abgelehnt, weil entgegen § 55 BauO NRW ein Behinderten-WC fehle. Die Klägerin vertritt die Auffassung, ein Behinderten-WC müsse nicht angelegt werden, wenn Kundentoiletten errichtet werden sollten, ohne dass dazu eine rechtliche Verpflichtung bestehe.
Das sieht interessant aus - der Fall wird hier beobachtet.
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Sebastian Veelken
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Re: BauO § 55: Barrierefreiheit freiwilliger Toiletten

Beitrag von Sebastian Veelken »

Die Entscheidung des OVG Nrw ist zwischenzeitlich unter NRWE abrufbar.

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7 A 1977/10
Ds Oberverwaltungsgericht hat in seiner Entscheidung den umfassenden Geltungsanspruch der Barrierefreiheit, speziell vor dem Hintergrund des Behindertengleichstellungsgesetzes noch einmal unterstrichen:
Auch ein Bäckereifachgeschäft mit Café ist eine öffentlich zugängliche bauliche Anlage. Wenn Toiletten für die Gäste (und nicht nur für das eigene Personal) bereitgehalten werden, unterfallen auch diese den Anforderungen des § 55 BauO NRW.
die in Rede stehende Anforderung gemäß § 55 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 und Abs. 4 Satz 10 BauO NRW [gilt] auch für Toilettenräume, die nicht vorgeschrieben sind, sondern ohne rechtliche Verpflichtung im Rahmen eines Vorhabens "freiwillig" errichtet werden sollen. Werden für eine Gaststätte oder für eine Verkaufsstätte Besuchertoiletten geschaffen, muss grundsätzlich mindestens ein Toilettenraum für Benutzer von Rollstühlen geeignet und erreichbar sein; dies gilt unabhängig davon, ob die Toiletten aufgrund einer rechtlichen Verpflichtung oder einer freiwilligen Entscheidung des Inhabers errichtet werden.
Schon traurig, dass erst ein Oberverwaltungsgericht solche Banalitäten erläutern muss:
Die Gewährleistung von Teilhabe am Leben in der Gesellschaft bezieht sich auf die tatsächliche Lebenswirklichkeit, die so zu beeinflussen ist, dass Behinderte grundsätzlich die Möglichkeit erhalten sollen, in gleicher Weise am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, wie nicht behinderte Menschen. Das betrifft auch einen alltäglichen Lebenssachverhalt wie das Auftreten eines "menschlichen Bedürfnisses" während eines Besuchs einer mit (freiwillig errichteten) nicht rollstuhlgeeigneten Toiletten ausgestatteten Verkaufsstätte oder Gaststätte, worauf die Beklagte hingewiesen hat. Die zeitungebundene oder bedürfnisbezogene Inanspruchnahme öffentlich zugänglicher Gaststätten und Verkaufsstätten mit Aufenthaltsmöglichkeiten zum Verweilen und Verzehr von Speisen an Ort und Stelle stünde auf die Benutzung von Rollstühlen angewiesenen Personen sonst nicht in der gleichen Weise zur Verfügung wie nicht in dieser Weise behinderten Menschen. Aus diesen Gründen ist die Regelung so zu verstehen, dass eine Gaststätte, die tatsächlich über Gästetoiletten verfügt, ebenso wie eine Verkaufsstätte mit Kundentoiletten, grundsätzlich so ausgestattet werden muss, dass sie für Rollstuhlfahrer geeignet und benutzbar ist.

Persönliche Anmerkung:

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Es bleibt zu hoffen, dass viele Bauaufsichtsbehörden, aber auch die Verbände der Menschen mit Behinderungen auf die Entscheidung aufmerksam werden und diese selbstverständlichen Rechte durchsetzen. Viel zu oft noch werden die Belange der Menschen mit Behinderungen aus Kostengründen nach hinten geschoben.
Dem Verfasser fällt da spontan eine Jugendherberge neueren Baujahrs ein, deren Haupteingang für Menschen mit Kinderwagen, Gehhilfen oder Rollstühlen unpassierbar ist, aber auch das Schnellrestaurant einer großen Kette, dessen überhohe und nach außen aufschlagende Türen nur mit großer Körperkraft geöffnet werden können - nichts für gebrechliche Menschen.
Das erläutert vielleicht auch, weshalb eine solche grundsätzliche Frage zu dem Gesetz aus dem Jahr 2003 erst im Jahr 2012 zu einem erstinstanzlichen Urteil und jetzt zu einer OVG-Entscheidung führte: Wenn Bauaufsichtsbehörden geltendes Recht nicht durchsetzen, sondern sich den Ausreden der Bauherren beugen, dann entsteht für den Bauherrn erst gar nicht die Notwendigkeit einer Klageerhebung.
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